* 5 *
Merrin wusste nicht, wie alt er war. Tatsächlich stand er kurz vor seinem dreizehnten Geburtstag, doch sein verschlossener Blick ließ ihn viel älter erscheinen. In der letzten Zeit war er ein ganzes Stück gewachsen, und mit der Selbstsicherheit eines Menschen, der seine Freiheit wiedergewonnen und obendrein Geld für viele Tage in der Tasche hatte, betrat er das Gasthaus Zum Dankbaren Steinbutt.
Mit möglichst rauer Stimme bestellte er ein Abendessen und fragte nach einem Zimmer für die Nacht.
Ein paar Minuten später saß er neben einem prasselnden Kaminfeuer, vor sich auf dem Tisch einen Krug dunkles Steinbutt-Spezial. Es ärgerte ihn, dass er nicht den Mut aufgebracht hatte, nach Limonade zu fragen. Es war ein ruhiger Sonntagabend in dem Gasthaus, und abgesehen von zwei Bauern, die um den Preis für eine Kuh feilschten, hatte er die Gaststube ganz für sich allein. Glaubte er zumindest. Doch was er nicht sehen konnte, weil Geister einem Jungen seines Schlags gewöhnlich nicht erschienen: Der Dankbare Steinbutt war voll von Geistern. So gesteckt voll, dass er auf dem Weg vom Schanktisch zum Kamin unwissentlich ein halbes Dutzend von ihnen passiert hatte, ehe sie zur Seite springen konnten, was großen geisterlichen Unmut erregte.
Als Merrin sich an den vermeintlich freien Tisch am Kamin setzte, war er in Wirklichkeit von Geistern umringt, denn in dunkler Nacht suchen die Nichtlebenden ebenso gern die Nähe eines lodernden Feuers wie jeder Lebende.
Merrin am nächsten saßen drei Fischer, von denen einer leicht ungehalten war, denn er hatte eben noch auf dem Platz gesessen, der jetzt von Merrin besetzt war. Vor ungefähr fünfzig Jahren waren die Fischer nach einem Streit darüber, wer den größten Fisch gefangen hatte, direkt vor dem Gasthaus ertrunken, und sie stritten noch immer. Merrin gegenüber saß eine sehr verblasste ehemalige Kesselflickerin, die ununterbrochen ihre Pennys zählte. Sie war hochbetagt an eben diesem Tisch gestorben und begriff bis heute nicht, dass sie tot war. Im Halbkreis um den Kamin standen sechs Rittersleute, die in einer längst vergessenen Schlacht um die Einwegbrücke gefallen waren. Sie plauderten mit zwei Melkerinnen, die sich erst vor ein paar Jahren auf dem Nachhauseweg vom Markt in einem Schneesturm verirrt hatten und in der Nacht erfroren waren. Auf der Tischkante saß eine Prinzessin, die einst von zu Hause fortgelaufen war, um sich mit ihrem Schatz zu treffen. Sie war unterwegs in ein Gewitter geraten, hatte sich unter einen Baum gestellt und war vom Blitz erschlagen worden. Sie betrachtete Merrin mit einem traurigen Blick, bis er unbehaglich auf seinem Stuhl herumrutschte. Sie fand, dass er ihrem vermissten Liebsten ein wenig ähnlich sah – aber nur ein wenig.
Es war also nicht verwunderlich, dass im Dankbaren Steinbutt eine ganz besondere Atmosphäre herrschte, und dies war auch der Grund, warum hier gewöhnlich nur Leute einkehrten, die zu spät dran waren, um noch in die Burg eingelassen zu werden, und ein Bett für die Nacht brauchten, oder Nordhändler, denen die meisten Wirte der Burg den Besuch ihrer Schenken verweigerten. Und der erste Geist, den Merrin in seinem Leben zu Gesicht bekam – freilich ohne sich dessen bewusst zu sein –, war der Geist eines solchen Nordhändlers.
Weitab von der Gruppe am Kamin, am anderen Ende der Gaststube, saß der Geist des Nordhändlers Olaf Snorrelssen, der einst auf der Einwegbrücke eingeschlafen und nie wieder aufgewacht war. Olaf beobachtete Merrin aus seiner schattigen Ecke. Der Junge hatte etwas an sich, das seine Aufmerksamkeit erregte – er war ein Reisender wie er, ein Fremder in der Fremde, wie er selbst häufig einer gewesen war. In einem plötzlich aufwallenden Gefühl von Verbundenheit beschloss Olaf, zum ersten Mal einem Lebenden zu erscheinen.
Auf dem Weg zu Merrins Tisch blickte er in einen der dunklen Spiegel, die an den Wänden des Dankbaren Steinbutt hingen. Zum ersten Mal seit fünfzehn Jahren sah er sich selbst – oder vielmehr Teile von sich. Es war ein Schock. Er blieb vor dem Spiegel stehen und starrte hinein. Merkwürdig: Die Umrisse seiner Gestalt waren alle da, doch in der Mitte klaffte ein hässliches Loch, durch das er hindurchsehen konnte. Und auch die obere Hälfte seines Kopfes war nicht richtig sichtbar. Er konzentrierte sich mit aller Macht, und langsam erschien der restliche Kopf mit dem alten Lederstirnband und dem schütteren blonden Haar. Du liebe Zeit, war sein Haar tatsächlich schon so licht? Er fasste sich an den Kopf, aber da war nichts. Eine tiefe Niedergeschlagenheit befiel ihn. Einen Moment lang hatte er ganz vergessen, dass er ein Geist war. Er musste an einen Rat denken, den ihm andere Geister gegeben hatten. Er solle auf der Hut sein, wenn er zum ersten Mal einem Lebenden erscheine, hatten sie ihn gewarnt. Das rufe alte Erinnerungen wach, und die Lebenden kämen einem so rastlos und so laut vor, dass man sich in ihrer Gegenwart mehr als Geist fühle als jemals zuvor. Olaf holte tief Luft und nahm seinen Mut zusammen. Sein übriger Oberkörper wurde sichtbar. Er hatte einen Bauchansatz. Er konnte sich nicht entsinnen, dass er zu seinen Lebzeiten seinem Äußeren jemals so große Beachtung geschenkt hätte.
Als Olaf an Merrins Tisch anlangte, sah er im schummrigen Wirtshauslicht so stofflich aus wie ein Lebender. Merrin schaute zu ihm auf, und Olaf fühlte Nervosität in sich aufsteigen – nie zuvor hatte ihn ein Lebender als Geist gesehen.
»Ich grüße dich«, waren seit fünfzehn Jahren die ersten Worte, die er an einen Lebenden richtete.
Der Junge erwiderte den Gruß nicht. Unschlüssig, was er tun oder sagen sollte, nahm Olaf ihm gegenüber Platz. Und übersah dabei den verblassten Geist der Kesselflickerin. Kreischend fuhr sie in die Höhe und ließ ihre Pennys zu Boden fallen.
»Oh! Verzeihung, Madam«, entschuldigte sich Olaf und kroch im nächsten Moment auf dem Fußboden herum, um die Pennys einzusammeln, was unmöglich war, da sie einem anderen Geist gehörten, und bei den übrigen noch mehr Anstoß erregte. Die Kesselflickerin drängte ihn zur Seite. Sie las ihre Pennys selber auf und zog sich dann schimpfend in eine dunkle Ecke zurück, in der sie die nächsten hundert Jahre damit zubrachte, ihre Pennys zu zählen, um sich zu vergewissern, dass noch alle da waren.
»Nennen Sie mich nicht Madam, ich bin kein Mädchen!«, raunzte Merrin und sah Olaf abweisend an.
Warum hatte der Fremde ihn angesprochen und sich dann plötzlich zu Boden geworfen? Irgendetwas stimmte mit ihm nicht, doch er kam nicht dahinter, was.
»Wie?«, fragte Olaf verwirrt. »Aber nein, natürlich bist du kein Mädchen.« Und in seinem melodischen Nordländerakzent setzte er leise hinzu: »Aber du bist fremd hier, habe ich recht?«
»Nein«, erwiderte Merrin barsch. »Ich bin in der Burg geboren. Ich ... ich komme nach Hause.«
»Ach, nach Hause«, seufzte Olaf wehmütig. »Dann kannst du dich glücklich schätzen. So mancher kann nie mehr nach Hause zurückkehren.«
Merrin sah sich den Mann genauer an. Sein wettergegerbtes Gesicht hatte gütige Züge, und seine blassblauen Augen blickten freundlich. Merrin wurde etwas zugänglicher. Es war das erste Mal, dass ihn jemand angesprochen hatte, weil er sich mit ihm unterhalten wollte, und das erste Mal, dass ihn jemand wie einen vollwertigen Menschen behandelte. Das war ein gutes Gefühl. Merrin wagte ein Lächeln.
Durch das Lächeln ermutigt, fragte Olaf weiter: »Hast du hier Verwandte?«
»Nein«, antwortete Merrin, der kurzerhand entschieden hatte, dass eine etwaige Mutter in Port nicht zählte. »Ich ... ich habe überhaupt keine Verwandten.«
Olaf stammte aus einer sehr großen Familie und konnte sich gar nicht vorstellen, wie das sein musste. »Keine Verwandten? Nicht einen einzigen?«
»Nein.«
»Wo willst du denn wohnen? Was willst du tun?«
Merrin zuckte mit den Schultern. Dieselbe Frage hatte er sich auch schon gestellt, aber in den hintersten Winkel seines Gehirns verbannt.
Olaf fasste einen Entschluss. Irgendwo in den Landen der Langen Nächte hatte er ein Kind, das er niemals gesehen hatte und auch niemals sehen würde. Aus irgendeinem Grund, den er selbst nicht verstand, war er überzeugt, dass es ein Mädchen war. Sie musste ungefähr im Alter dieses Jungen sein. Wenn er schon für sein eigenes Kind nichts tun konnte, so wollte er doch wenigstens einem anderen helfen. »Morgen«, erbot er sich, »bringe ich dich in die Burg und zeige dir ein gutes Haus, in dem du wohnen kannst. Übernachtest du heute hier?«
Merrin nickte.
»Und heute bist du wohl weit gereist, nehme ich an?« Olaf kam nun in Fahrt und fand Vergnügen an dem Gespräch.
»Den ganzen Weg von den Ödlanden hierher. Ich möchte nie wieder zurück.«
»Du warst dort nicht bei Verwandten?«, fragte Olaf.
»Nein! Die haben mich wie einen Dienstboten behandelt. Oder noch schlimmer. Bei der ersten Gelegenheit bin ich ausgebüchst.«
Olaf nickte mitfühlend. Der Junge, so dachte er bei sich, hatte ein schweres Leben gehabt. Es wurde Zeit, dass ihm jemand eine helfende Hand reichte.
Ermutigt durch Olafs Zuwendung, begann Merrin, seine Geschichte zu erzählen. »Ich bin früher schon mal weggelaufen, aber da bin ich in den Marschen an eine verrückte alte Hexe geraten, bei der ich Aal und Kohlsandwichs essen musste.«
»Das ist nicht schön«, murmelte Olaf.
»Es war eklig. Um ihr zu entkommen, habe ich eine Stelle bei Simon Heap angenommen, aber das war noch schlimmer. Ich landete in demselben scheußlichen Haus, in dem ich aufgewachsen bin. Ich konnte es nicht fassen. Bis vor ein paar Wochen dachte ich, ich müsste für immer beim alten Heap und diesem Sack voller Knochen bleiben.«
»Einem Sack voller Knochen?«, fragte Olaf, der glaubte, sich verhört zu haben.
»Ja. Simons alter Meister – und meiner. DomDaniel. Er hat in einem Sack gelebt, bis ich ihn letzte Nacht ausgekippt habe.«
»Ah ... ausgekippt ?« Diesmal war Olaf fest überzeugt, dass er sich verhört hatte.
»Ja. Ich habe seinen Ring. Wollen Sie mal sehen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, wedelte er dem Geist mit seinem beringten Daumen vor dem Gesicht herum. »Der gehört jetzt mir«, sagte er, »und ich habe ihn mir verdient. Es war kein Vergnügen, in den vielen Knochen herumzuwühlen. An manchen hing noch so etwas wie Knorpel. Und Schleim. Außerdem waren sie biegsam. Igitt! Aber ich hab ihn herunterbekommen, von seinem Daumen. Ich hab einfach das Ende abgehackt. Haha! Dem hab ich’s gezeigt. Haben Sie gewusst, dass Daumenknochen genau wie Zehenknochen sind?«
Olaf nickte misstrauisch. Dieser Junge war nicht so, wie er erwartet hatte. Er bereute das Angebot, das er ihm vorhin gemacht hatte. Es stimmte, was man über die Lebenden sagte – es waren komische Vögel darunter. Wieder mal typisch, dass er ausgerechnet an so einen geriet, wenn er zum ersten Mal einem Lebenden erschien. Aber wenigstens blieben ihm weitere Ausführungen über Knochen erspart, denn in dieser Sekunde brachte das Schankmädchen das Abendessen: einen großen Teller mit Würstchen, die in einem Berg Kartoffelbrei steckten.
»Ich lasse dich jetzt allein, damit du in Ruhe essen kannst«, sagte Olaf und erhob sich rasch, als das Schankmädchen den Teller vor Merrin hinstellte. Merrin nickte vergnügt, denn er wollte dem Fremden nichts von seinem Essen abgeben, und spießte eine dicke Wurst auf die Gabel. Olaf zuckte zusammen. Er fand, dass die Würste wie Daumenknochen aussahen. Er konnte sie sich gut in einem Sack vorstellen. Mit Ringen daran.
»Dann also bis morgen«, sagte Merrin, den Mund voller Wurst.
»Äh ... morgen. Ja, bis morgen«, erwiderte Olaf düster. Er brach niemals ein Versprechen.
»Gut«, sagte Merrin und schaute auf, nachdem er die zweite Wurst aufgespießt hatte. Doch die Gaststube war leer. Die Bauern waren fort, und der große blonde Fremde auch.